Kunst ist nicht nur ein Produkt menschlicher Kultur und von ästhetischem Interesse. Kunst ist Teil sozialpsychologischer Prozesse, künstlerisches Schaffen hat Auswirkungen auf das Gehirn und Kunsttherapie spielt eine wichtige Rolle in Rehabilitation und Genesung.
Von Alena Fleischmann (Psychologin (M.Sc.))
Kunst ist das schöpferische Gestalten in Auseinandersetzung mit Natur und Welt. Sie kann viele Formen annehmen – Gemälde, Architektur, Musik, Schauspiel, Schriftstücke (um nur einige Möglichkeiten aufzuzählen) – und sich mit allen banalen und weltbewegenden Themen der Welt auseinandersetzten. Kunst scheint aber oft unausweichlich mit der Psyche des Menschen verwoben zu sein, ob durch die Schaffung der Kunst selbst als Ausdruck des eigenen Ich, der eigenen Emotionen, durch die Auseinandersetzung mit Emotionen und zwischenmenschlichen Verhaltens in der Kunst selbst oder zuletzt durch die Wahrnehmung und Interpretation des Menschen, der die Kunst betrachtet.
Warum schafft der Mensch Kunst?
Seit Beginn der Menschheit scheint es Kunst zu geben – ob Höhlenmalerei, Schnitzerei oder Tonfiguren. Also selbst als das Überleben für viele Menschen mit mehr Anstrengung und Gefahr verbunden war, nahmen sich Menschen Zeit Kunst zu schaffen. Wissenschaftler vermuten verschiedene Mechanismen dahinter. Auf der einen Seite kann Kunst als Balzinstrument, also zur Werbung von Partner:innen dienen – wir kennen dies zum Beispiel von Vögeln, die singen. Dabei hilft es zum einem Gefühle auszudrücken, die dann beim gewünschten Partner ankommen und auf Resonanz stoßen können. Zum anderen zeigt es die eigene Fitness nach dem Prinzip „Ich bin so fit, dass ich sogar Zeit und Ressourcen habe für nicht überlebenswichtige Aufgaben“. Auf der anderen Seite hat Kunst auch eine sozialpsychologische Funktion: d.h. sie hilft das Gruppengefühl zu stärken, durch gemeinsame Aktivität und die Schaffung von Werken, die Identifikationsmöglichkeiten bieten.
Eine Abgrenzung gegenüber anderen Gruppen kann auch wiederum mit gruppenspezifischen Ausdrucksformen signalisiert werden. So zum Beispiel, wenn ethnische Gruppen ihre eigenen Volkstänze zeigen und zelebrieren. Kunst hat also für die Menschheit als Ganzes einen wichtigen Sinn, aber warum macht ein spezifisches Individuum Kunst?
An kreativen Prozessen sind viele verschiedene Gehirnareale und -prozesse beteiligt und es gibt keinen Bereich, der nur für kreatives Schaffen genutzt wird. Man kann also nicht sagen, dass Menschen Künstler werden, weil ein bestimmter Gehirnbereich besonders ausgeprägt ist. Was die Forschung feststellen kann, ist aber, dass sich das Gehirn auf bestimmte Arten verhält, wenn wir kreativ sind. So zeigen sich im EEG mehr Alpha-Wellen (diese treten typischerweise in entspannten Wachzuständen auf) bei kreativen Aufgaben. Auch verringert sich unsere Gehirnaktivität in Bereichen der aktiven Problemlösung und Planung, wenn wir beim Musizieren improvisieren. Kreativität und Kunstschaffung hat also Auswirkungen auf unser Gehirn. Aber wie diese auf Dauer aussehen und warum ein Individuum Kunst macht lässt sich auf wissenschaftlicher Ebene noch nicht beantworten. Wenn wir also wissen wollen, warum jemand Kunst macht, müssen wir diese Person selbst fragen.
Wie viel vom Künstler steckt in der Kunst?
Diese Frage und die Frage warum ein Individuum Kunst macht pauschal zu beantworten ist wohl nicht möglich. Natürlich fließt von jedem:r Künstler:in etwas in seine:ihre Kunst mit ein, ob nun indirekt durch Einfluss der Weltanschauung, Wahrnehmung und Lebensrealität oder direkt durch die Verarbeitung des eigenen Lebens. Aber wie stark und auf welche Weise Kunst durch das Leben von Künstler:innen geprägt ist, ist je nach Künstler:in und wohl auch Kunstform unterschiedlich. Wir haben daher einige Künstler:innen gefragt warum sie Kunst machen, wie viel sie von sich selbst dort einfließen lassen und wie sie die Verbindung zwischen Kunst und Psyche sehen. Diese Interviews finden Sie in dem Artikel „Künstler:innen und Psyche: Wie viel vom Künstler steckt in der Kunst?“.
Kunst als Therapie?
Kunst wird nicht nur von Einzelpersonen im stillen Kämmerchen genutzt um sich mit den eigenen Dämonen, Erfahrungen und Emotionen auseinanderzusetzen. Kunst wird in Form von Kunsttherapie (dabei wird mit bildender Kunst gearbeitet) in verschiedenen Bereichen zur Rehabilitation genutzt – insbesondere in der Psychosomatik, Onkologie, Geriatrie, Neurologie und Psychiatrie. Kunsttherapie nutzt dafür sowohl tiefenpsychologische als auch verhaltenstherapeutische Techniken und wird zumeist in Gruppen angeboten, ist aber auch als Einzeltherapie möglich. Momentan übernimmt die Krankenkasse sie nicht als einzelnes Psychotherapieverfahren, sondern nur wenn sie als Baustein in einem Rehabilitationsprogramm genutzt wird. Zielsetzung in der Kunsttherapie ist es nicht die nächste „Mona Lisa“ zu schaffen, sondern sich selbst kennen zu lernen und eine nicht-sprachliche Kommunikationsebene zu eröffnen. Bei schwer depressiven Menschen kann die Kunstschaffung auch genutzt werden, um den Leidensdruck so weit abzubauen, dass andere Therapieformen überhaupt erst möglich sind. Das Kunstwerk kann nach seiner Schaffung dann als Ansatzpunkt für Gespräche über die Probleme oder das Betrachten aus verschiedenen Blickwinkeln genutzt werden. Man kann in der Kunsttherapie jedoch nicht nur problemorientiert arbeiten, sondern auch ressourcenorientiert.
Dabei spielt die Freude am Kunstschaffen eine wichtige Rolle. Ziel kann dabei zum Beispiel sein, einen sicheren Ort zu gestalten, an den man sich zur Stabilisierung geistig zurückziehen kann. Zudem kann das Kunstschaffen unsere Selbstwirksamkeit, also unsere Überzeugung schwierige Situationen aus eigener Kraft zu bewältigen und mit unserem Handeln etwas zu bewirken, stärken. Dies geschieht durch das Üben, sich etwas Trauen und auch das Verändern und Verbessern von Kunstprojekten und den eigenen Fähigkeiten im Kunstschaffungsprozess.
Wie sieht es aber mit der Wirksamkeit von Kunsttherapie aus?
Personen, die an Kunsttherapie teilnehmen, äußern zwar meist sehr positive Auswirkungen für sie selbst, es gibt aber leider kaum empirische Studien zur Wirksamkeit von Kunsttherapie und ihren Wirkfaktoren. Dies fängt sich zwar gerade an zu ändern, bis wir genauere Aussagen haben, wird es aber wohl noch ein paar Jahre dauern. Dennoch lässt sich anhand der bestehenden Studienlage sagen, dass zum Beispiel ungezwungenes Malen beim Abbau von Stress und negativen Gefühlen hilft und dass Teilnehmer von Kunsttherapie Verbesserungen ihrer Symptomatiken zurückmelden, sowie eine erhöhte Selbstwirksamkeit.
Auch für andere Kunstformen als Malen gibt es Studien, die positive Wirkungen aufzeigen. So zeigten 1986 James Pennebaker und Sandra Beall, dass Studenten die schmerzvolle Ereignisse schriftlich dokumentierten, weniger oft krank waren, als die die es nicht aufschrieben. Dieses Ergebnis der positiven Auswirkung von der schriftlichen Auseinandersetzung mit eigenen Erlebnissen wird durch weitere Studien gestärkt.
Stereotyp: Der leidende Künstler
Nun haben wir über die heilende Wirkung von Kunst gesprochen. Für die meisten Menschen ist aber wohl das erste Bild was einem durch den Kopf geht, wenn es um Kunst und Psyche geht, das des leidenden Künstlers. Man denkt an van Gogh, Marylin Monroe, Edvard Munch, Keith Flint, Chester Bennington, Frida Kahlo oder Sarah Kane – an Genies, die durch ihre Psyche geplagt wurden. Aber was ist dran an diesem Stereotyp des leidenden Künstlers oder der leidenden Künstlerin?
Schon Aristoteles schrieb, dass Künstler zur Melancholie neigen und führte dies auf ein Übermaß an schwarzer Galle zurück. In der Epoche der Romantik stand oft der psychisch labile Intellektuelle und Künstler im Mittelpunkt. Die Figur des tragisch an seiner Psyche leidenden Künstlers ist also nichts Neues. Aber wie sieht es mit der Wahrheit hinter diesem Stereotyp aus? Das gestaltet sich etwas komplizierter. Was man auf jeden Fall sagen kann: man muss nicht psychisch krank sein, um ein künstlerisches Genie zu sein und nicht in jedem psychisch kranken Menschen steckt ein verborgenes künstlerisches Genie. Jedoch zeigen sich erhöhte Vorkommenswahrscheinlichkeiten für bestimmte psychische Störungen wie Bipolarität und Schizophrenie unter Künstler:innen. So zeigt eine Studie aus 2018 von Kyaga und Kolleg:innen, dass in kreativen Berufen Personen mit bipolarer Störung und gesunde Geschwister von Menschen mit Schizophrenie oder bipolarer Störung überrepräsentiert waren. Es zeigte sich aber auch, dass Schizophrene selbst nicht häufiger als die Allgemeinbevölkerung kreative Berufe ausüben und das weder Personen mit unipolaren Depressionen noch ihre Geschwister häufiger kreative Berufe ergriffen haben als die Kontrollgruppe.
Stimmt das Stereotyp der gebeutelten und labilen Künstler:innen also? Nein, auf jeden Fall nicht in der Allumfassung wie es dargestellt wird. Denn wie die Studien zeigen, sind es nicht allgemein psychische Störungen, sondern spezifische Störungen, die häufiger bei Menschen, die kreativ sind, auftreten und dann ist es eben auch nur ein häufiges Auftreten und kein immer oder meistens auftreten. Woher kommt dann aber dieses extreme Stereotyp? Dies hat wahrscheinlich viele Gründe: Viele Künstler:innen werden erst nach ihrem Tod berühmt und leben oft in Armut oder prekären Verhältnissen. Dies kann zur Entwicklung von psychischen Störungen beitragen. Psychisch labile Künstler:innen sind faszinierend und werden oft mystifiziert und prägen so stärker unser allgemeines Bild von Künstler:innen, aber vor allem beschäftigt sich Kunst oft mit der menschlichen Psyche als Inspiration oder direktes Thema und das auch zur Zeiten wo psychische Störungen extrem stigmatisiert waren und ein Tabuthema darstellen.
Kunst als Türöffner und Entstigmatisierer
Kunst ist oft nicht nur ästhetisch oder unterhaltsam, sie möchte zu großen Teilen auch eine Message vermitteln. Sie soll uns zum Nachdenken anregen, Entwicklung verursachen und Aufmerksamkeit auf wichtige Themen ziehen. Kunst stellt auch oft eine Umgangsmöglichkeit mit Tabuthemen dar. So hat die Kunst auch schon immer psychische Störungen thematisiert. So kommt in vielen Kunstwerken das Thema Suizid vor z.B. in „Die Leiden des jungen Werther“ oder der „Zauberflöte“. Edvard Munchs stellt in der Bilderreihe „Der Schrei“ eine Panikattacke dar. In Büchners „Lenz“ wird der reale Autor Jakob Michael Reinhold Lenz dargestellt, der wahrscheinlich Schizophrenie hatte. Büchners Text beruht dabei auf Briefen des echten Lenz und schriftlichen Beobachtungen des Pfarrers Oberlin des realen Lenz. In den Liedern „Pennyroyal Tea“ von Nirvana und „Help!“ von den Beatles geht es um Depressionen. In Lady Gagas Lied „911“ geht es um bipolare Erkrankungen, die Einnahme von Antipsychotika und deren Nebenwirkungen. Mit dieser Darstellung von psychischen Störungen und dem teilweise sehr offenem Sprechen über die Inspiration aus dem eigenen Leben öffnen Künstler:innen das Gespräch über diese Themen und tragen so zur Entstigmatisierung bei.
Literatur
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Kyaga, S., Lichtenstein, P., Boman, M., Hultman, C. M., Långström, N., & Landén, M. (2011). Creativity and mental disorder: Family study of 300 000 people with severe mental disorder. British Journal of Psychiatry, 199(5), 373–379. https://doi.org/10.1192/bjp.bp.110.085316
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