Entzauberung eines integrativen Werkzeugkoffers.
Von Viktoria Auth
Welcher Beratungsansatz passt zu mir?
Diese Frage kennen nicht nur Ratsuchende, sondern viele angehende Berater:innen, Coaches und auch Therapeut:innen scheinen sich hier entscheiden zu müssen. Bereits nach dem Grundstudium und vor der Ausbildung zu:r Berater:in oder Therapeut:in müssen sich angehende Ratgebende mit der Frage auseinander setzen, mit welcher theoretischen Schule sie sich identifizieren: psychodynamisch, verhaltensorientiert, personzentriert oder doch systemisch? Jeder dieser Ansätze vertritt ein eigenes Grundverständnis und bietet aus dieser Perspektivität ein breites Interventionsspektrum.
Muss ich mich überhaupt entscheiden?
Die Passung zwischen ausgewählter Intervention[1], Persönlichkeit der beratenden Person sowie der ratsuchenden erscheint ausschlaggebend.
„Wie wir aus vielfältigen vergleichenden Studien über die Wirkungsweise von Interventionsstilen und Interventionsschulen der unterschiedlichen theoretischen Orientierung wissen, hängt das Gelingen immer von der Persönlichkeit des Beraters ab, von seiner Glaubwürdigkeit und von seiner Identifikation mit der eigenen Methode.“
(Schwing, Fryszer 2018: 14.)
So soll der vorliegende Artikel keine wissenschaftliche Abhandlung über theoretische Schulen, Erklärungsmodelle und mögliche Interventionen liefern, sondern viel mehr unsere Haltung widerspiegeln. Weder ein Anspruch auf Vollständigkeit noch theoretische Trennschärfe, sondern eine auf unseren Erfahrungen basierende Auswahl bzw. Anpassung der Methode ist Ziel dieses Berichts.
Diese Vielfalt in der Beratungsmethodik fußt auf einem prall gefüllten Koffer voller Interventionen unterschiedlicher Ansätze. Die Fähigkeit, in der richtigen Situation das passende Werkzeug herauszu“zaubern“, ist– unser Erachtens – eine der Grundkompetenzen von Berater:innen; entsprechende Wissensgrundlage zu theoretischen Annahmen entsprechender Intervention und möglicher Wirkungsweisen bilden die Grundvoraussetzungen.
Vielleicht haben Sie bereits unsere Kurzvideos oder wie man sie gerne nennt „Reels“ auf Social Media (Instagram) gefunden?
Am Beispiel der dort gezeigten Methodik versucht dieser Artikel, die „Zauberei“ der Auswahl passender Interventionen für das Beratungshandwerk aufzudecken. Zugleich soll die klassischerweise in Social Media typische verkürzte Darstellung wieder in ihren Gesamtkontext eingebettet werden.
Grundlage für Beratung & Coaching
Auf Basis einer personzentrierten[2] Haltung steht für uns die/der Ratsuchende im Zentrum. Bereits im Rahmen der „Kennenlernphase“ scheint es von besonderer Bedeutung zu sein, die Stärken unseres Gegenübers zu fokussieren, da der Mensch so viel mehr ist als das Problem oder die Fragestellung, die er gerade mit in den Beratungsraum bringt. Wissen über Beruf, Freizeitaktivitäten und Leidenschaften eröffnen Möglichkeitsräume für eine spätere Lösungsorientierung in der ‚Problembearbeitung‘.
Keine Wahl bietet sich aus unserer Perspektive in der eingenommenen Haltung gegenüber dem Ratsuchenden. Unabhängig von Alter, Lebensgeschichte, Krankheit, Karriere oder gar Bankkontostand ist eine Begegnung auf Augenhöhe in der Beratung, die auf Empathie und Wertschätzung beruht, Grundstein einer gelungen Arbeitsbeziehung. Die Wertschätzung ist unbedingt, unabhängig von bisher erbrachter Leistung; doch gerade durch einen ressourcenorientierten Einstieg bieten sich mannigfaltige Möglichkeiten, die Wertschätzung zu konkretisieren und zu verankern. Ein authentisches Interesse an unserem Gegenüber erleichtert das notwendige aufeinander ‚Einlassen‘ und den Aufbau von Vertrauen. (vgl. Kriz 2014: 200)
Um was geht es eigentlich in der Beratung?
In längeren Beratungsprozessen können Themen diffundieren oder auch zu Beginn neuer Prozesse kann der Leidensdruck der Ratsuchenden hoch sein und die Auswahl eines konkreten Themas erschweren.
Eine klare Strukturierung der (Beratungs-)Sitzungen ist nicht nur von verhaltensorientierten Unterstützenden klassisches Handwerkszeug. Auch in unserem „Reel“ auf Social Media ergänzen wird diese mit einer systemischen Intervention: der Skalierung[3]. Manchmal fällt es Ratsuchenden nicht einfach zu entscheiden, welches der oben liegenden Themen gerade in den Fokus rücken soll. Mit Bewertungsfragen wie „wie dringlich ist Ihnen das Anliegen XY von ‚0% interessiert mich nicht‘ bis ‚100% ich kann keine Sekunde an etwas Anderes denken‘?“ oder „Wie wichtig ist Ihnen XY auf einer Skala von 1-10“ können hilfreich sein, um die ggf. vorhandene Anliegen-Vielfalt zu priorisieren und die Themen schrittweise zu bearbeiten. Die genaue Fragestellung ist ebenfalls treffend auf Basis des Systemkontexts auszuwählen: hilfreich für die ratsuchende Person und authentisch für die Beratenden. Durch die vorgenommene Skalierung können die Themen im Anschluss leicht sortiert werden und der Auftrag der aktuellen Sitzung ist konkretisiert. Sinnvoll ist an dieser Stelle im Beratungsprozess oft eine Wiederholungsschleife, in dem der Ratsuchenden erneut gefragt wird, ob diese Ordnung nun für ihn passend erscheint oder ob noch etwas fehlt oder geändert werden müsste.
Die in Social Media folgend zu sehenden Kurzausschnitte aus einem möglichen Beratungsprozess, zeigen Szenen, die sehr vermutlich in unterschiedlichen Sitzungen erarbeitet würden; Denn eine Beratung darf nicht überladen werden mit einer Aneinanderreihung von Methoden, die weder zielführend noch gar von unserem Ratsuchenden beauftragt sind.
Informationen sammeln, Entscheidungen treffen, Prozesse begleiten
Die systemische Beratung betrachtet den Menschen und sein Beratungsanliegen im Kontext. Unter dem ‚System‘ werden die Beziehungen verstanden, in dessen Wechselwirkungen das ‚Problem‘ auftritt. (vgl. Kriz 2014: 245ff)
Aufstellungen[4] in unterschiedlicher Ausführung sind ein beliebtes Hilfsmittel systemischer Arbeit, um Wechselwirkung und Beziehung zu verbildlichen, dabei können kleine Figuren, aber auch Alltagsgegenstände zum Einsatz kommen. Auf solchen Wegen kann Einsicht in komplexe Geflechte gewonnen werden: Wie nah stehen sich die Beteiligten? Wer dreht sich weg? Wer ist scheinbar unbeteiligt? Wie sieht die Situation aus der Perspektive von Person B aus? Was könnte passieren, wenn sich Person A bewegt? Bewegt sich Person B, wenn sich Person A Person C nähert? Es wird kompliziert? Umso wichtiger wird es, Figuren real schieben zu können und somit mögliche Bilder bzw. Metaphern anzubieten. (vgl. Schwing, Fryszer 2018: 175)
In unserem Social-Media-Beispiel berichtet die Ratsuchende von einem aktuellen Konflikt im Team. Auch wenn ihre Arbeitssituation nicht originäres Anliegen in der Beratung ist, so kann es dennoch sinnvoll sein, dieses zu bearbeiten. Ganz nach dem Leitsatz der Systemik: Störungen haben Vorrang. Sobald sich die Situation gedanklich, durch Strukturierung und ggf. einem Perspektivwechsel geordnet hat, erscheint es oft wieder leichter möglich, sich auch auf anderen Themen zu konzentrieren.
In einer der darauffolgenden Sitzungen könnte dann beispielsweise eines der ursprünglichen Hauptanliegen in den Fokus rücken: z.B. die eigene berufliche Perspektive. Soll ich nochmal studieren? Oder lieber weiter in der Praxis bleiben? Diese Fragen können sich für die Menschen, die sie sich stellen, manchmal „übermächtig groß“ und umfassend „anfühlen“.
Die Methode des Tetralemmas kann dazu beitragen, dass die Totalität der Entscheidung aufweicht und neue Entscheidungsspielräume entstehen.
Hatten Sie bereits mal darüber nachgedacht, dass keine Entscheidung zu treffen auch eine Entscheidung ist?
Nach einem ähnlichen Prinzip arbeitet die aus dem indischen Rechtswesen kommende Methodik (vgl. Kleve 2020): Bereits im Wortstamm ersichtlich: Tetra, vier Möglichkeiten. Das Eine, das Andere, Beides oder Keines. Wobei das Eine, das Andere oder beides in vielen Entscheidungsprozessen grundsätzlich gut – zumindest theoretisch – vorstellbar bleibt, ergänzt die vierte Dimension die Entscheidung mit einer Option, die bisher vielleicht noch nicht gesehen wurde. In gewissen Beratungskontakten kann es zudem sinnvoll sein eine fünfte Dimension zu eröffnen: All dies nicht und selbst das nicht. Die fünfte Ebene kann Distanz zur Entscheidung erhöhen und den Raum für die Entscheidung, zunächst nach weiteren Optionen zu suchen, eröffnen. In der Anwendung der Methode bietet sich meist die Chance den Kern der Entscheidung – „um was geht es wirklich“ – deutlicher hervortreten zu lassen. (vgl. Kleve 2020)
Besonders wertvoll bei dieser Methodik scheint die Möglichkeit zu sein, eine gezielte Anpassung an unser Gegenüber und den Beratungskontext vornehmen zu können. Eher kognitiv fokussierte Menschen können sich oft in die Arbeit an der Flipchart mit den verschiedenen Optionen und ggf. ergänzt durch Vor- und Nachteile der jeweiligen Option besser einlassen und eher in einen Entscheidungsprozess eintreten. Für emotionsorientierte Ratsuchende kann es dahingegen hilfreicher sein, mit Bodenankern zu arbeiten und mehr über die Emotion zu erfragen, welche der Entscheidungen sich „wie“ anfühlt.
Die Entscheidung bleibt vollkommen beim Ratsuchenden. Die Beratung dient als Unterstützung in der selbstbestimmten Entscheidungsfindung und ergänzend als Begleitung im folgenden Umsetzungsprozess.
Rückschau, Reflexion, Vorbereitung
Psychodynamisches[5] Wissen kann für eine Reflexion von vergangenen Beratungen und zur Vorbereitung kommender hilfreich sein. Insbesondere wahrgenommene Irritationen im Beratungsgespräch können Hinweise bieten, die Situation auf ein Übertragungs- bzw. Gegenübertragungsgeschehen hin zu überprüfen.
„Als stärksten Widerstand hatte Freud ursprünglich die „Übertragung“ bezeichnet. Damit werden Gefühle des Patienten dem Analytiker gegenüber gekennzeichnet, die nicht in der realen Situation begründet sind, sondern von früheren Beziehungen stammen und nun in der therapeutischen Situation neu belebt werden.“
(Kriz 2014: 51)
Auch im nicht-therapeutisches Setting kann das komplementär zur Übertragung stehende Gefühl, welches z.B. Berater:innen wahrnehmen, in der Reflexion dienlich sein. Die als sog. Gegenübertragung bezeichneten Gefühle der Rat gebenden Person, die der Ratsuchende „quasi in ihm „erzeugt““ (ebd.: 52), können Hypothesen genierend genutzt werden. Die gewonnen Überlegungen werden somit in der Vorbereitung des anstehenden Termins dienlich.
Andere Ansätze bieten ebenfalls hilfreiche Methoden zur Reflexion und zur Erweiterung der Perspektivität. Das „Reflecting Team“ beispielsweise, welches systemisch orientiert ist, arbeitet gezielt mit der Wahrnehmung Dritter über das aktuelle Fallgeschehen. Dieses kann in der Praxis eher seltener als Live-Supervision[6] erfolgen, indem das „reflektierende Team“ mit im Beratungsraum sitzt und die Sitzung gezielt unterbricht oder im Verlaufe einer retrospektiven Betrachtung im Rahmen einer angeleiteten Supervision ohne Anwesenheit des Ratsuchenden.
Entzauberung
An dieser Stelle könnten wir eine Vielzahl weiterer möglicher Interventions- und Reflexionsformen unterschiedlicher Grundkonzepte von Therapie und Beratung aufzeigen. Wichtiger erscheint jedoch, dass Berater:innen aus ihrer Ausbildung sowie ihrer praktischen Erfahrung heraus einen abwechslungsreichen Methodenkoffer zusammenstellen, aus dem sie sich zielgerichtet bedienen können.
Auf Grundlage der Beratungsreflexion, der fachlich fundierten Auswahl passender Intervention und einer personzentrierten Haltung in der Beratungssituation selbst, verliert sich dann die Zauberei und wird im Ergebnis zur wirksamen Unterstützung für ratsuchende Menschen.
Unseres Erachtens ist die Integration verschiedenster Ansätze sinnvoll, solange sie für die Unterstützung der Person hilfreich erscheint. Nicht nur die hier ausgewählten Interventionen füllen den Möglichkeitsraum. Auch das Setting der Beratung selbst, bietet Anpassungsmöglichkeiten an die Person, die Unterstützung sucht. Ist vielleicht ein Spaziergang mit dem Blick in die gleiche Richtung hilfreicher als ein gegenüber geführtes Gespräch am Tisch? Fällt es der ratsuchenden Person leichter sich zu Hause zu öffnen als außerhalb ihres engsten sozialen Raums? Könnte Tierkontakt es erleichtern? Vielleicht sogar erstmal ein Gespräch auf der Metaebene, z.B. über das Herdeverhalten der Pferde bevor wir über den Teamkonflikt sprechen?
Eine personzentrierte Integration verschiedenster Ansätze ist aus unserer Erfahrung hilfreiches Steuerelement für eine wirksame Beratung, in dem der eine Mensch und nicht die eine Theorie im Zentrum steht.
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[1]Unter Intervention verstehen wir hier die Ausgestaltung der Beratung mit z.B. spezifischen Fragetechniken und Methoden. Es handelt sich um ein bedachtes und gezieltes Eingreifen in den Gesprächsfluss.
[2]Die personzentrierte Haltung stellt die ‚Person‘ – wie der Begriff es bereits benennt – ins Zentrum. Die/der Berater:in begegnet dieser empathisch, wertschätzend und authentisch. Auf Basis eines humanistischen Menschenbildes wird jeder Mensch mit seinen Fähigkeiten gesehen und Menschen in ihrer Verschiedenheit akzeptiert. (vgl. Kriz 2014: 200ff)
[3]Verkürzt kann eine Skalierung in der Beratung verstanden werden als eine Sortierung durch die Zuordnung eines Zahlenwerts.
[4]Verkürzt kann unter einer Aufstellung die bildliche Darstellung eines Systems wie z.B. eines Teams oder einer Familie mit z.B. mit kleinen Holzfiguren verstanden werden.
[5]Psychodynamische Ansätze sind an der Psychoanalyse nach Freud orientiert (vgl. Kriz 2014: 110ff). „Ein zentraler Gedanke dieser Theorie lautet, dass psychische Störungen mit ungelösten Konflikten aus ganz bestimmten Stufen bzw. Phasen der menschlichen Entwicklung zusammenhängen“ (ebd.: 42).
[6]Supervision ist eine Form des Coachings/ der Beratung für Beratende. Diese kann einzeln oder im Teamverbund stattfinden, soll u.a. neue Perspektiven und Handlungsmöglichkeiten eröffnen und zur eigenen Psychohygiene dienen.
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Literaturverzeichnis
Flon, H. (2017): The Reflecting Team Approach: Different Uses in Live Supervision and Group Supervision with both Family Therapy Trainees and Practitioners. Online verfügbar. Zuletzt geprüft am 14.11.2022.
Gahleitner, S. B., Reichel, R. (2013): Integrative Orientierung. In: Pauls, H., Stockmann, P. Reicherts, M. (Hg): Beratungskompetenzen für die psychosoziale Fallarbeit. Ein sozialtherapeutisches Profil, S.156-173
Kleve, H. (2020): Lexikons des systemischen Arbeitens. Tetralemma. online verfügbar unter: https://www.carl-auer.de/magazin/systemisches-lexikon/tetralemma. Zuletzt geprüft am 14.11.2022
König, E., Volmer, G. (2008): Handbuch. Systemisches Coaching. Für Coaches und Führungskräfte, Berater und Trainer. Weinheim, Basel: Beltz Verlag
Kriz, J. (2014): Grundkonzepte der Psychotherapie. Weinheim, Basel: Beltz Verlag.
Schnoor, H. (Hg.) (2011): Psychodynamische Beratung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht gmbH & Co. KG
Schwing, R., Fryszer, A. (2018): Systemisches Handwerk. Werkzeug für die Praxis. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG.
Systemisches Netzwerk (o.J.): Das Online-Magazin von und für Systemiker:innen. Methodensammlung. Online verfügar unter: https://systemischesnetzwerk.de/methodensammlung/. Zuletzt geprüft am 14.11.2022